Ich beobachte gerne Menschen.
Ob nun im Café in Rouen, im Zug nach Deutschland oder im Supermarkt in Pont Audemer.
Man erfährt eine ganze Menge, wenn man sich die Mühe macht, ab und an etwas näher hin zuschauen. Dabei versuche ich den Menschen, so zu sehen wie er ist und meine Vorurteile: dick, dünn, arm, reich, schwarz oder weiß, außen vor zulassen.
Die Pariser Métro ist der Umschlagplatz für Beobachtungswütige wie mich.
Ich könnte mir stundenlang, auf den unbequemen Plastikschalen sitzend, Geschichten zu den Mitfahrenden ausdenken. Manchmal passieren in den unterirdischen Zügen so ungewöhnliche Dinge, dass sie eine ganze Flut von erstaunlichen Erkenntnissen in mir hervorrufen.
So geschehen gestern, als ich erneut über das You Tube Video der amerikanischen Beatbox-Gruppe“Naturally 7“ stolperte. Diese Gruppe hatte mich vor Jahren mit ihrem Song „Feel It“ so total begeistert, dass ich die Melodie sogar als Klingelton auf meinem Handy habe. Nicht zuletzt auch deshalb, weil ich es irre spannend finde, dass es sich hier um eine rein akustische Gruppe handelt, die ohne auch nur ein einziges Instrument zu benutzen, diese wunderbaren Töne hervor zaubert.
Und wieder begeisterte ich mich für das Video, in der die Gruppe, die vor ein paar Jahren in der Pariser Métro von A nach Z fuhr, ganz spontan anfing zu singen.
Da ich das Lied ja nun zur Genüge kenne, beobachtete ich, auf meinem Sitzball vor dem Computerscreen rhythmisch hüpfend, die Menschen, die an diesem Tag in der Métro fuhren und das unglaubliche Glück hatten – hach, was bin ich so neidisch – einem Spontankonzert von Naturally 7 beizuwohnen.
So was passiert nicht alle Tage und ich würde was darum geben, dabei gewesen zu sein.
Die Menschen, die tagtäglich in der Métro unterwegs sind, sind die ein oder andere lautstarke Musikbegleitung gewöhnt und so wundert es mich nicht, dass die ersten Sekunden des Videos völlig unspektakulär verlaufen. Monsieur und Madame Tout-Le-Monde drehen dem ganzen Spektakel eher gleichgültig den Rücken zu.
„Oh, nicht schon wieder!“ wird sich der eine oder die andere mit Sicherheit gedacht haben!
Der Mann im dunklen Mantel erregt meine Aufmerksamkeit, denn er schaut einmal kurz über die Schulter, schaut anschließend zu der Dame mit dem Tierprint-Schal, vielleicht um herauszufinden, wie sie auf das Gesinge reagiert, und kümmert sich dann wieder, völlig unberührt, um die Musik in seinem I-Pod.
Nachdem das klirrende Signal der Métro die Weiterfahrt signalisiert, fängt Mme Tierprintschal an, ganz vorsichtig im Rhythmus zu wippen. Vielleicht ist es aber auch nur das Geschaukel der U-Bahn.
Immer mehr Menschen drehen sich langsam der Gruppe zu, fangen an zu lächeln, zücken die Handys, um zu fotografieren und zu filmen, fangen teilweise fast zu tanzen an.
Neue Menschen steigen hinzu und werden von den Rhythmen mitgerissen.
Nur Monsieur Dunkler Mantel nicht!
Während sich mittlerweile das ganze Abteil Naturally 7 zuwendet, steht er stoisch, mit der Gruppe zugewandten Rücken, und will sich einfach nicht in den Bann der Gruppe hineinziehen lassen.
Selbst als die Gruppe ihren Song beendet und die Menschen begeistert in die Hände klatschen, dreht er sich nicht um.
Was ist das für ein Mann? frage ich mich und finde es faszinierend, dass Dunkler Mantel ganz augenscheinlich die „leblose“ Musik aus seinem Elektronik-Gerät, der echten und gelebten Musik vorzieht, und sich stattdessen lieber die Ohrstöpsel zurecht rückt, anstatt die Dinger heraus zu nehmen und 5 Minuten lang, reale und leidenschaftlich vorgetragene Musik sehen und hören und “erleben“ zu können.
Ich bilde mir ein, regelrecht die Inflexibilität dieses Mannes spüren zu können. Mann bin ich froh, mit so jemand nicht verheiratet zu sein.
Je öfter ich mir dieses Video anschaue, umso steifer wirkt Dunkler Mantel auf mich.
Es drängt sich mir die unangenehme Frage auf, ob wir nicht alle, hier und da, wie Dunkler Mantel in der Weltgeschichte herum stehen und gar nicht mitbekommen, dass hinter unserem Rücken gerade ein kleiner Moment des Glücks an uns vorbei rattert.
Wir erwarten vom Glück nämlich, dass es sich mit Fahnen und Trompeten ankündigt und wir Zeit haben, wie bei Silvester mit dem 10 Sekunden Countdown, uns seelisch und moralisch darauf einzustellen.
Anstatt den Moment zu genießen, sind wir eingeschlossen in unserer Wann-Man-Was-Wie-Tut-Welt, und merken dabei nicht, dass die kleinen goldenen Momente im Leben sich grundsätzlich nicht telefonisch anmelden:
„Hallo Pia – hier ist Dein Glücksmoment! Ich komme morgen an der und der Stelle, um die und die Uhrzeit, für die und die Dauer vorbei!“
So läuft es im Leben nicht!
Glück ist das Lachen des zahnlosen Baby's im Kinderwagen an der Supermarktkasse.
Die nasse Hundezunge, die dem Frauchen einmal quer über das Gesicht leckt.
Oder aber eben die Musiker, die aus Spaß an der Freude in der U-Bahn ihre Leidenschaft leben.
Ob Dunkler Mantel das irgendwann mal begreifen wird?
Ich wünsche es ihm von Herzen!
Noch mehr von Naturally 7 gibt es hier
Den Song in der "professionellen"Version hier
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